V O R W O R T

Das erste Gemälde von Juliette Juvin, das ich gesehen habe, hing im Lesezimmer eines Privathauses. Gleich dahinter stand ein Wintergarten mit einem wunderschönen Mimosenbaum. Es war ein typisches Juvin-Bild. Ein Interieur, das eine hübsche Wohneinrichtung zeigte, alles war ein bisschen verrutscht, schief, und gleichzeitig mit sehr viel Liebe zum Detail inszeniert. Ich war kein Kunstkenner, aber ich empfand es als etwas Besonderes, da völlig Eigenes. Dazu der betörende Duft aus dem Wintergarten – leuchtend gelb blühende Mimosen. Eine Kombination, die sich für immer einprägen sollte: Juvin und Blumenduft.

Viele Jahre später begegnete mir die Kunst von Juliette Juvin dann wieder in der Sammlung Zander, damals noch mit Sitz in dem schönen Schloss in Bönnigheim. Im Gegensatz zu „damals“ gab es nun das Internet und die Möglichkeit auf Kunstforen zu stöbern. Und so wurde es irgendwann zur Routine, etwa alle zwei Wochen den Suchbegriff „Juliette Juvin“ in den PC zu tippen. Ein Teil der Ergebnisse dieser Suche ist hier nun zu sehen: Gemälde, die für mich noch immer eine Einladung sind, sich einzulassen auf die Details, das Einfache, das Schöne.

In diesem Aluftritt wird Juliette Juvin in einer kurzen Reflexion von Nils Ley, angehender Kunsthistoriker, fachlich zu- und eingeordnet. Danach geben die Texte von Christine Ley Impulse für eigene Ideen und Wahr-nehmungen zu Juliette Juvins Bildern.

Die Gemälde von Michael Schade tragen für mich innerlich den Titel „Seelenbilder“, denn sie erzählen von seinem Inneren. Es sind Bibelstellen, die er mit seiner Handschrift sichtbar und erzählbar gemacht hat. Am besten bespricht man den Inhalt mit ihm persönlich. Und zwar zu Hause am Küchentisch mit Brot, Käse und einem Glas Rotwein. Innenwelten – das sind Räume, in denen sich Schwingung entfalten kann, es sind Orte der Schönheit ¶ Stefan Bohrmann



E I N F Ü H R U N G


Wer heute im Internet nach Juliette Juvin sucht, stößt zwar auf eine Vielzahl an Treffern (58.600 Ergebnisse in 0,43 Sekunden), wird sich mit einer Einordnung der Künstlerin jedoch wahrscheinlich schwertun. So öffnet sich nun eine Welt voller liebevoll eingerichteter Innenräume sowie diverser Stillleben – einiges bleibt jedoch im Argen. Die 1896 in Chaumont geborene Künstlerin war besonders, wenn nicht gar ausschließlich, in Paris aktiv und dort in den 1930er und 1940er Jahren Teil der etablierten Kunstszene. Über ihre Lebensumstände ist wenig Genaues bekannt, anhand einer in der Bibliothèque nationale de France aufbewahrten Aquatinta ist jedoch ersichtlich, dass Juvin bereits 1925 künstlerisch aktiv und zudem Schülerin des Grafikers Chas Laborde war. 1

Besondere Beachtung erfuhr Juvin wohl in den 1930er und 1940er Jahren, noch vor der deutschen Besetzung der französischen Hauptstadt und nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Nach einer Einzelausstellung 1935 nahm sie vier Jahre später bereits am Salon des Indépendants teil, einer jährlichen Ausstellung für unabhängige Künstler*innen, die von Paul Signac und Georges Seurat (u.a.) gegründet wurde. 2 Die französische Tageszeitung Rolet: revue indépendante widmete ihr zudem einen äußerst wohlgesonnenen Artikel, in dem bereits am 4.1.1940 ihre „Entdeckung“ gefordert wird. 3 Bei einer Versteigerung von zeitgenössischer Kunst im Hôtel Drouot am 5. März 1948 wurden zwei ihrer Werke neben denen von Degas, Gauguin, Matisse, Modigliani, Picasso, Renoir und Toulouse-Lautrec (u.a.) versteigert, Juvin war hierbei eine der wenigen weiblichen Positionen. 4 Über den späteren Lebensverlauf der Künstlerin ist wenig bekannt, vermutlich verstirbt sie zwischen 1969 und 1978. Von Juliette Juvins Werken geht eine Anziehungskraft aus, der sich scheinbar auch ihre Zeitgenoss*innen nicht entziehen konnten. Sie wird jedoch als noch „unentdeckte“, vielversprechende Stimme in Expert*innen- und Anfänger*innenkreisen gehandelt. Es überrascht also nicht, dass Juvins einzige institutionelle Repräsentation die Sammlung Zander ist, wo fünf Gemälde der Künstlerin beheimatet sind. Aufgrund ihrer perspektivisch teils unkorrekten Darstellungsweise und ihrem künstlerischen Umfeld wird Juvin daher oft als „Naive“ Künstlerin dargestellt, wobei stets ein Qualitätsargument und die Annahme, die Künstlerin hätte außerhalb der Kunstgeschichte gearbeitet, mitschwingt. Ihren Werken wird absichtlich oder unabsichtlich ein Mangel an Komplexität, Vielschichtigkeit und inhaltlicher Tiefe unterstellt.5 Erkennbar ist jedoch, dass Juvin stilistisch sicher und mit Bewusstsein für den Kunstmarkt sowie die Kunstgeschichte gearbeitet hat.

In ihren Werken verbindet Juvin verschiedene kunsthistorische Traditionen. Stilistisch an den Impressionismus mit freien, teils pastosen Pinselstrichen anknüpfend, zeigt sie jene Innenräume, die dieser Impressionismus jedoch vornehmlich mied. Und somit knüpft Juvin nicht nur an die Interieurmalerei des 19. Jahrhunderts mit starker Fokussierung auf die opulente Möblierung des bürgerlichen Eigenheimes, sondern auch an die menschenleere, räumliche Haltlosigkeit van Goghs oder Hammershøis an. Diese Bipolarität äußert sich zudem in der Farbgebung ihrer Bilder, die teils durch gedeckte, anderenfalls jedoch auch beinahe unvermischte, leuchtende Farben bestimmt ist. Das konstituierende Element der Interieurmalerei, die Tür, die In- und Exterieur trennt, nimmt in Juvins Werk eine tragende Rolle ein. Die Malerin und ihre Betrachter*innen haben sich in den Raum begeben, der jedoch durch die geöffneten Fenster und Türen, die streifende Blicke freigeben, erweitert wird. Spiegel und Gemälde im Bild ermöglichen zudem eine Reflexion des Raumes im buchstäblichen Sinn, aber auch im übertragenen, indem sie über das Kompositionelle und Inhaltliche hinaus eine weitere Dimension des Bedeutungsvollen einbringen. 6

Im „System“ der französischen Kunstwelt des 20. Jahrhunderts war Juliette Juvin keine Außenseiterin. Der Künstler*innenkreis, in den sie verordnet wird, wurde von den populären Künstler*innen der Avantgarde und Kunsthändlern wie Wilhelm Uhde sehr geschätzt .7 Lange war es ein Anliegen der „Insider“ der Gesellschaft, jenen Künstler*innen einen Platz außerhalb des zeitgenössischen Kunstbetriebes zuzuweisen, um eine Unberührtheit von der kapitalorientierten und mit akademischen Traditionen behafteten Kunstwelt in den Fokus zu stellen und zudem erklären zu können, weshalb sich die Künstler*innen der Avantgarde für sie interessierten.8 Die Parallelen zu zeitgenössischen Strömungen und der kunsthistorischen Tradition weisen jedoch auf, dass man Juvin und ihre Kolleg*innen nicht einfach so abgrenzen kann. Ihre Werke sind sicherlich teils eigen und originell, diese Einsicht ist jedoch nur durch die Rezeptionsgeschichte der Kunst der Massen haltbar. Und so fordert uns Juliette Juvin auch heraus. Unsere Sehgewohnheiten, besonders jedoch unser vorgefertigtes Bild von „Meisterwerken“ und ihren Urheber*innen. Vor Vincent van Goghs „Sternennacht“ werden Besucher*innen des MoMA New York durch all das, was sie überdas Gemälde gehört und gesehen haben, zu „überwältigenden“ Gefühlen und Empfindungen gedrängt. Das Bild ist berühmt, unermesslich wertvoll, es ist das Original – wenn ich es ganz genau betrachte, muss ich eine Verbundenheit fühlen. Vor Juliette Juvins Bildern haben wir die Möglichkeit, unbeeinflusst von Gelesenem und Reproduktionen, eine authentische Verbindung zu einem Werk herzustellen, ohne dass diese kulturell im Vorhinein konstruiert wurde.

Die europäische Kunstgeschichte setzt mit der Buchmalerei und damit der Illustration von biblischen Texten ein. Diese grundlegende Thematik zieht sich durch jegliche Epochen, sie scheint an Faszination und Komplexität nichts eingebüßt zu haben. Dieser Herausforderung und Tradition stellt sich Michael Schade. Seine veristischen Bilder, möglicherweise in surrealistischer Tradition, fordern uns heraus – hier entsteht die Verbindung zwischen Schade und Juvin. Erforderlich ist eine zweifache Exegese: jene der Bibeltexte und die des Bildes in seiner visuellen Beschaffenheit. Auch in surrealistischen Kreisen finden sich Auslegungen biblischer Texte, wenn auch nur vereinzelt. Beachtlich ist hierbei jedoch, dass Marc Chagalls Bibelillustrationen sowie Salvador Dalís berühmter „Biblia Sacra“- Zyklus stets in den Bereich des Figurativen zurückkehren und durchaus leichter erfassbar erscheinen als vorhergehende Werke der Künstler. 9

Über Jahrhunderte hinweg gab und gibt es für biblische Szenen eine vemeintliche objektive Wirklichkeit und Darstellungstradition, derer sich Künstler*innen bedienen. Die Symbolik dieser Bilderwelt scheint erschöpft, einzig die Bildhermeneutik kann ihr Weiteres entlocken. Und so versucht Michael Schade, die Bibelstellen in eine andere Sprache zu übersetzen und ihnen Neues zu entlocken. Dabei nimmt er die Betrachtenden in mehrdeutige Welten, in weite, aber dennoch undurchdringbare Landschaften und eine komplexe Gedankenwelt mit. Die Vielschichtigkeit dieser Bilder bringt Betrachtende zudem dazu, eine Art Prozess in der Rezeption zu durchlaufen. Der erste Blick gilt wahrscheinlich der Durchdringung der Form und einem „Zurechtfinden“ im Bild. Weitergehend versuchen wir uns nun an der Interpretation und der Verbindung der Form mit dem Inhalt, in diesem Fall einer biblischen Geschichte. Zuletzt bleibt indessen die Funktion, derer wir wohl nie mächtig werden. Das ist doch aber das Faszinierende. ¶ Nils Ley

 


1 Chas Laborde und Juliette Juvin, Queen Victoria, 1925, Aquatinta, 38 x 28 cm, Paris, Bibliothèque nationale de France, Inv. DC-655 (3).
2 Campagne, Jean Marc: Les arts: Juliette Juvin, in: Rolet : revue indépendante (4.1.1940).
3 Ebd.
4 Tableaux Modernes, Sculptures N*****, Hôtel Drouot, 5.3.1948, hrsg. von Alphonse Bellier. Paris 1948.
5 Die Maler der Heiligen Herzens, Ausst.-Kat. Baden-Baden 2022, hrsg.von Udo Kittelmann. Berlin 2022, S. 157
6 Schütz, Karl: Das Interieur in der Malerei. München 2009, S.10.
7 Die Maler der Heiligen Herzens, Ausst.-Kat. Baden-Baden 2022, hrsg. von Udo Kittelmann. Berlin 2022, S. 160.
8 Ebd.
9 Biblia Sacra – der unbekannte Dalí. Künstler – Werk – Rezeption, Ausst.-Kat. Rottenburg 2020, hrsg. von Daniela Blum. Ostfildern 2020.